Poesie, Lyrik, Geschichten

In loser Folge wollen wir hier einige Texte aus den beiden Lyrik- und Prosa-Büchern "Die Flocke" (aus 2015) und "Ansichtssache" (aus 2020) sowie aus dem Kurzgeschichtenbüchlein "Auf ein Viertelstündchen" vorstellen.
Ergänzend wollen wir "tintenfrische" Texte der neuesten Zeit vorweg stellen - aber auch ältere Texte, die ihre Aktualität nicht eingebüßt haben (wie "zu gelassen" und "Demokratie") sowie Texte zu den Jahreszeiten.
Aktuell sind die Tagebuch-Essays aus einem Spiekeroog-Aufenthalt vorangestellt.

Alle Texte sind von Frank Sölter und unterliegen dem Copyright (c).
Viel Freude!

Tagebuch – Essays auf Spiekeroog
April 2023

Ankommen

Das autofreie Dorf erreicht man nur mit dem Schiff. Trickreich ist das Kassieren der hier Gästebeitrag, anderenorts Kurabgabe oder, jetzt auch in Großstädten häufig, Bettensteuer genannt wird. Der Fahrschein für die Überfahrt auf die Insel, als Hin- und Rückfahrt gebucht, kann nur kombiniert mit dem Gästebeitrag erworben und bezahlt werden. Ein einfaches, sicheres und sehr effizientes Verfahren, zumal die Schiffe der Tourismusfirma der kleinen Inselgemeinde gehören. Dem Gästebeitrag ist daher nur so zu entkommen, indem es gelingt, sich als blinder Passagier auf eines der Fähren zu schmuggeln, was bei der Übersichtlichkeit im Hafen und auf den Schiffen kein leichtes Unterfangen darstellt.

Nach Bezug der Ferienwohnung erfolgt der unverzichtbare erste Einkauf im Inselmarkt - für das Nötigste. Lebensmittelpreise erweisen sich als Inflations- und Inselpreise. Alles muss auf die Insel transportiert werden, mit einer eigens dafür schwimmenden Lastenfähre, soweit die kräftigen, zweimal täglich sich eindrucksvoll zeigenden Nordseetiden oder auch kräftigen Winde dies zulassen. Ein neben den existentiellen Sorgen um den Zustand von schützenden Deichen – gegen durch Stürme, gar Orkane zu meterhohen Wellen aufgetürmten See sich wehrend – mitunter beschwerlicheres Leben auf der Insel als auf dem in Sichtweite liegenden Festland.

Es gibt nur, was da ist, also den Seeweg beschritten hat. Das macht geduldiger, gepaart mit improvisierenden Talenten und hilfreichen nachbarlichen Netzwerken. Und Nachbar ist hier als Einheimischer jeder mit jedem. Auch als Reisender vermißt man auf dem Inselchen viel weniger als zuhause oder bei Reisen auf dem Festland. Die Bereitschaft mit dem auszukommen und zu leben, was die Insel ermöglicht, scheint sich, in Eintracht mit einer größeren Toleranz und Nachsichtigkeit, wie eine unsichtbare Aura - Bollwerk gegen allzu schnelles und hitziges Aufbrausen ob einer tatsächlichen oder empfundenen Mängelfeststellung - besänftigend und beinahe mit ein wenig Heiterkeit auf die Menschen zu legen.

Der Beginn des Weges, der Entschleunigung genannt wird.

 

Unser täglich Brot

Schilder weisen den Ortsunkundigen auf die bäckereispezifischen Öffnungszeiten der Wochentage wie der täglichen Zeiten hin. Die jederzeit verfügbare Technik nutzend und montags, nicht wie der Unkundige, einen verschlossenen Zugang vorfinden wollend, fotographieren die versierten Reisenden mit ihren Smartphones alle Hinweisschilder des Ortes, die es nicht geschafft haben, sich schnell genug vor diesen Touristenprofis wegzuducken. So wird auch das Hinweisschild der kleinen Bäckerei auf der ebenfalls kleinen, Nordseewasser umspülten Insel, nicht wie zu Großelterns Zeiten auf Zelluloid gebannt, sondern auf Milliarden von Pixeln, dem Sternenmeer des Universums gleich, auf wenigen Nano-Zentimeterchen zu hunderten oder tausenden anderer Bilder in Nullen und Einsen gespeichert. Die auf dem Hinweisschild des Bäckers vorangestellte Frage: „Schlangestehen?“ wird darunter sogleich beantwortet mit: „Wollen Sie Schlangestehen vermeiden, bestellen Sie vor.“ Allerdings, so wird der interessiert Lesende belehrt, nur ab einer Anzahl von mindestens vier Tagen.

Erschloß sich dieser Hinweis dem Reisenden am nachmittäglichen Tage seiner Ankunft auf der Insel und dem ab mittags geschlossenen Bäckereiladen nicht, so erblickte er am nächsten Morgen, zwar nicht wenig überrascht, aber das Hinweisschild sogleich erinnernd, die Schlange der vor dem Bäckereiladen auf Einlaß Wartenden.

Es sei angemerkt, dass auf dem Inselchen die Häuser, und gar schon die alten im Dorfkern gelegenen, recht klein und dem stetig blasenden Wind geschuldet, niedrig sind und der weit herunter gezogenen Dachform entsprechend als in die Landschaft geduckt erscheinen. In dem kleinen Haus mit Bäckereiladen, Backstube und angeschlossenem Café konnten vor dem brusthohen, gläsernen Tresen nur jeweils zwei Kunden Einlaß finden und knapp, aber freundlich bedient werden. Alle anderen warten vor dem Laden, geduldig und unaufgeregt, obgleich alle noch ohne das die Lebensgeister weckende Frühstück unterwegs - der duftenden Brötchen wegen. Das aber schickt sich an, mit den exquisiten Backwaren geadelt zu werden. Exquisit im handwerklich-meisterhaft, klassischem Sinne mit einer modernen Note, was nicht nur, aber besonders an den verarbeiteten Zutaten zum Ausdruck, sprich Geschmack, kommt. Folgerichtig bezeichnet sich der Bäcker mit den für viele, nicht aber für den Kenner, überraschenden Begriff des Freibäckers.

Diese Bezeichnung weist einen Bäcker aus, der keine vorgefertigten Mischungen und Zutaten benutzt, die von der Lebensmittelindustrie und dem Bäckereigroßhandel zusammengestellt und vertrieben werden. So werden in vielen Bäckereien und den Großbäckereien nicht nur fertige Mehlmischungen, sondern vielerlei lebensmittelchemische Zusatzstoffe weltweit operierender Konzerne verwandt, mit dem perfiden Ziel, unabhängig von den jährlich in der Qualität unterschiedlichen Kornernten und damit Mehlen, in den Produktionsabläufen ihrer Backstraßen immer gleich verarbeiten zu können, in schnellstmöglicher Zeit – mit dem immer gleichen Geschmack. Und das geht offenbar für die meisten Bäckereibetriebe nur mit Chemie und künstlich erzeugten Enzymen. Ohne Rücksicht auf Unverträglichkeiten oder Allergien, nur getrieben von einer einfachen, laborgesteuerten Schnelligkeit in der Herstellung. Das alles bezahlen wir als Kunden mit. Und erhalten ein vermeintlich gesundes Backwarenerzeugnis, das von Kruste und Krume auf perfekt getrimmt ist und, egal in welchem Land wir es erstehen, immer nichtssagend, charakterlos und langweilig schmeckt.

Der Freibäcker hingegen verwendet meist einen über Jahrzehnte von ihm gepflegten und als betrieblichen Schatz gehüteten Sauerteig als natürliches Treibmittel. Seine Rezepturen muss der Freibäcker in jedem Jahr an die neue Kornernte und damit die Qualität des Mehls anpassen. So an das jeweils richtige Verhältnis von Wasser, Mehl und Sauerteigansatz – und vor allem an die Zeit. Die Zeit der Teigreife, -temperatur und -ruhe. Nur das macht ein gutes Sauerteigbrot aus – Zeit. Zeit aber darf die aus vorgefertigten Produktzusätzen bestehende Backwarenherstellung andernorts nicht kosten.

Der Freibäcker nimmt sich die Zeit! Entgegen aller ökonomischer Vernunft - nach Auffassung der wie beim Igel-und-Hase-Wettstreit auftauchenden Berater, angel-sächsisch sich Consulting schimpfend, die wegen der lebensmittelchemischen Möglichkeiten im betrieblichen Ablauf die Personal- und damit Produktionskosten anmahnen. Der Freibäcker bleibt unbeirrt - und nimmt sich die Zeit. Das Ergebnis des Freibäckers ist ein völlig anderes Brot, Brotgeschmack und Verträglichkeit. Und so verlässt der Reisende die kleine Inselbäckerei mit den köstlichsten Backwaren, die, geschmackvoll wie sie sind, nur des Aufstrichs mit etwas Butter bedürfen – vorahnend genußvoll lächelnd.

 

Hören

Das Eröffnungskonzert im Rahmen eines als Jazzfestival betitelten Musikfestes überraschte mit ungewöhnlich vielen Stilrichtungen wie Blues, Boogie Woogie, Gypsi-Swing und betont jazzigeren New Orleans Sound und Free Jazz. Nach dem Einnehmen der Plätze bemerkte ich halb schräg vor mir den kahlköpfigen oder kahlrasierten Endzwanziger, mit einem geschätzten Körpermaß, sitzend nicht leicht zu taxieren, von gut über 1,90 cm. Ich selbst, immer noch 1,86 cm messend, befragte den rückwärtigen Besucher, ob ich meinen Platz mit meiner wesentlich kleineren Ehefrau wechseln solle, der besseren Sicht für ihn wegen. Dankend verneinte der so Angesprochene. Er könne an mir seitlich vorbei sehen, nur der junge Mann vor mir und so auch vor ihm bekümmere ihn.

Mit Beginn des mit fünf Musikbands angekündigten Programms rutschte der überdurchschnittliche Besucher vor mir dergestalt in seinen Stuhl, dass die Silhouette seines Kopfes niedriger als bei dem Durchschnitt der Besucher den Blick zur Bühne kaum einschränkte, für mich sogar freie Sicht auf die Bühne ermöglichte. Im Laufe der Zeit muss diese unergonomische Sitzweise für einen solch großen Menschen äußerst unbequem und gar zu einer Rückenplage werden, Spätfolgen mag man sich nicht ausmalen. Folgerichtig setzte der im Rhythmus der Musik mitschwingende, offensichtlich begeisterte Musikliebhaber sich in seiner ganzen Größe, ergonomisch korrekt sitzend, wieder auf.

Allerdings nur kurz, der eingeschränkten Sicht seiner hinter ihm sitzenden Besucher ob seiner beachtlichen Größe offenbar bewußt. Dann beugte er seinen beeindruckend langen Rücken, wie in einer Rückenschule gelernt, rückenentlastend recht gerade nach vorn, den Kopf in waagerechter Verlängerung – nach unten blickend! Ohne dass ich es selbst sehen konnte, vermittelte die ganze Haltung des jungen Besuchers den Eindruck, vollkommen mit geschlossenen Augen so der Musik weiter zu folgen. So verrieten die leichten, dem Rhythmus der Musik folgenden Schwingungen die Innigkeit, mit der er den Tönen lauschte – und so auf die zugehörigen Bilder der auf der Bühne agierenden Musiker verzichtete. Purer Musikgenuß durch das isolierte (Zu-)Hören, ohne die ablenkenden Aufnahmen zweier Sinne zugleich – dem Hören und Sehen.

Ich selbst übe mich immer wieder bei Livekonzerten daran, oft die Augen ob eines höher empfundenen Hörgenusses geschlossen zu halten. Mitunter ist es nicht leicht, das rechte Maß dafür zu finden. So ist es beispielsweise schon beeindruckend, den Fingerstyle-Gitarristen live beim Picken der Saiten auch zuzusehen. Die Intensität des Höreindruckes leidet dadurch aber deutlich.

Die Konzentration auf nur einen Sinn ist eben höher als die Summe zweier oder mehrerer Sinneseindrücke.

 

Gespräch

Konzerte sollten, vielleicht sind sie es sogar schon, Pflicht für jede Studentin und jeden Studenten der Soziologie sein. Wer Augen hat, der sehe, wer Ohren hat der höre.

Von den in dem zu berichtenden Konzert unspektakulären, musikalisch schon hier und dort vergleichbar gehörten Darbietungen der ansonsten exzellenten Musiker gibt es wenig Berichtenswertes und der Besuch wäre längst in einer der Schubladen für das Vergessen abgelegt worden. Wäre da nicht das zufällige und, wahrheitsgemäß berichtet, das unbeabsichtigte Mithören, nein Mithörenmüssen!, des Gesprächs in der Reihe links hinter dem eigenen Sitzplatz gewesen. Gewiß, es gibt Zuhörende, die, ganz bewußt, wo immer sie sind, im Café, der Bahn, im Restaurant oder eben im Konzert, ihre volle hörbereite und geschärfte Aufmerksamkeit fremden Gesprächen widmen. Selten aus Interesse an dem Gesprächsthema selbst, sondern fast ausschließlich aus Neugier, gepaart mit einer dubiosen, geheimdienstähnlichen, jedenfalls aus einem moralisch und gesellschaftlich als illegal zu qualifizierendem Belauschen.

Mein Interesse trifft das alles nicht, fremde Gespräche sollten für mich fremd, verborgen hinter einem unsichtbaren, abhörsicheren Vorhang, nicht (mit-)gehört bleiben. Es gibt allerdings Gespräche fremder Art, denen man sich nicht entziehen kann, sei es lautstärkebedingt oder wegen einer besonderen Stimmlage oder -frequenz, die als aufdringlich, wenn nicht sogar penetrant empfunden sein mag. So geschehen in jenem Konzert, in einem auf Rede und Gegenrede geführten Gespräch, das, mein Wohlbefinden schützend, mein Gehirn die Bereitschaft verweigerte, aus luftigen Gesprächsfetzen der Hinterreihe Worte oder gar Sätze zu formen. Dann aber dieser eine Satz, Ausrufezeichensatz! Und ich wußte sogleich, als er heraus war, dass er nach einer kurzen, wohlbedachten Pause zur Bekräftigung wiederholt werden würde: „Das hätte sie aber nicht brauchen!“ Pause „Nein, das hätte sie nicht brauchen!“

 Ohne dass ich Weiteres des Gesprächs vernommen hätte, ja ganz bewußt sogar die nach rückwärts gerichtete Hörrichtung abgeschaltet hatte, mußte ich noch fünfmal den nämlichen Satz und nur diesen „Das hätte sie nicht brauchen!“ deutlich vernehmen, ohne mich dagegen wehren zu können. Nur der Rest meiner durch Eltern, Lehrern und vielen anderen geleisteten Erziehung ließ mich davon abhalten, mich umdrehend und einmischend zu verkünden: „Ich stimme ihnen ganz zu. Wir sollten immer weniger brauchen. Die Menschheit verbraucht die Ressourcen der Erde in so wenigen Generationen. Und das hätte sie nicht brauchen!“

 

Faszinosum

Eine Jazzformation live mit Hammond-Orgel zu erleben, verspricht funkensprühende, mitunter chaotisch anmutende, weil übergangslos Harmonien, Disharmonien, leise mit gewaltig laut tönenden Orgel- und auch orgeluntypischen Klängen, wechselnde musikalische Sequenzen. Ein virtuoser Beherrscher einer, oder muss man sagen der, mit so gewaltig vielen Klangsphären ausgestatteten Hammond-Orgel ist Dirk van der Linden.

Nicht allein, dass er die technisch diesem Instrument mitgegebenen Möglichkeiten in für den Zuhörer kaum erfassbaren Facetten dem Wunderwerk aus Instrumentenbau und Elektronik ans Licht, d.h. zu Gehör bringt, ist ein Konzertbesuch bei dem Trio aus Bass, Schlagzeug und eben Hammond-Orgel wert. Nein, auch wie van der Linden ganz körperlich seinem Spiel Ausdruck verleiht, ist allein optisch ein Hochgenuß.

Bei leisen Tönen voller harmonischer Schwingungen sitzt der mittelgroße, kräftig gebaute und ernährte, mit wildem, leicht ergrautem Haar, Vollbart tragende van der Linden aufrecht, fast stoisch, hinter seinem Musikapparat, mit der rechten Spielhand die Manuale bedienend, mit der linken Hand immer wieder, die links am Instrument angebrachten Regler, Schalter und Knöpfe für die so vielen Stimmen und Stimmungen einstellend. Dann aber kommt Bewegung in den Virtuosen, sein Oberkörper wiegt seitlich erst nur leicht hin und her, bevor der ganze Körper mit einbezogen wird. Je wilder, und lauter!, das Spielen wird, desto wilder agiert er – die Ausschläge seines Körpers nach links und rechts wie bei einem übermütig in Schwung versetzten Pendel, aber auch nach vorn, fast auf Kußnähe zu den Tasten, sowie nicht ungefährlich nach hinten wiegend. Schließlich pendelt er weit, sehr weit nach links unter die Sichthöhe des Instruments hinab, um dann zur Erleichterung des Betrachters pfeilschnell wieder von unten hervor zu schießen. Alles dies in einem einzigen infernalischem, musikalischem Höllenfieber – für Spieler wie den ungläubig staunenden Betrachter.

Und während des, neuerlich abrupt im Rhythmus wechselndem, folgendem ruhigem, marimba-artigen Spiel van der Lindens stellte sich mir ein Déjà-vu ein. Wo hatte ich eine solche körperbetonte Virtuosität an einem Tasteninstrument schon gesehen? Auf dem Heimweg formten sich vor dem geistigen Auge nach und nach die seit Kindheitstagen bis heute so oft betrachteten Bilder. Wilhelm Busch hatte in seinem Bilderzyklus „Der Virtuos“ van der Linden schon vor 100 Jahren vorweg genommen.

 

Vorübergehen

Die Ferienwohnung lag in Südrichtung, fünf Treppenstufen erhöht vor einem die Wanderung beginnenden oder beendenden Fußweg. Der geklinkerte, eher schmale Fahrweg in dem autofreien Dorf für Radfahrer, Elektrokarren und auch Fußgänger auf einer der Nordsee-Inseln wurde vom Fußweg durch einen ebenso breiten Grünstreifen getrennt. Vor dem Haus sitzend war eine von Buschwerk freie Sicht von ca. 10 Metern auf alles Vorbeigehende oder -fahrende. Gespräche, meist nur Gesprächsfetzen, von Passanten waren allerdings schon vorher vernehmbar, bevor die Vorüberziehenden in das Blickfeld des Betrachters gerieten. Meist waren es, wenn nicht stumm vorüber geschritten wurde, nicht mehr als ein bis zwei, maximal drei Sätze. Die Entscheidung, ob es ein unmittelbar vorher begonnenes oder mittendrin geführtes Gespräch war, musste meist offen bleiben.

So war, noch verdeckt von der Hecke, die Stimme eines gesetzt an Jahren klingenden Herrn zu vernehmen, der einleitend zu einem noch nicht näher auszumachenden Begleiter sagte: „Das ist alles Physik.“ Und dann gerieten die offenbar zu einem wissenschaftlichen Disput durch diese Aussage Eingeführten in mein Blickfeld. Ein wohlbeleibter, nicht dicklicher, anspruchsvoll gekleideter, in den Anfängen der Siebziger sich befindlicher Herr mit einem leichten Rucksack sprach dies zu seinem kleinen Begleiter von etwa vier bis fünf Jahren. „… alles ist Materie“, so wohl der großväterlich Dozierende, „und alle Materie der Welt verbleibt auf dieser Erde“. Damit endete das zufällige Mithören in diesem auf 10 Metern eingegrenzten Abschnitt des vorüber eilenden Lebens unbekannter Zeitgenossen.

Als Abschlussbild blieb mir vom proffessoral sich gerierenden Großvater und dem brav daneben hergehenden Enkel dies. Der Großvater mit jugendlichem Rucksack neben dem in gemessenem Schritt, ob der physikalisch bahnbrechenden Erkenntnisse, mit hinter dem Rücken zusammen gelegten Händen gehenden Knaben. Der jüngste hier von mir erblickte Studiosus. Möge eine hilfreiche Person ihm den Weg zu einem der wunderbaren Spielplätze im Ort weisen.

 

Koan

In der Meditation des buddhistischen Zen gibt es die besondere Beziehung des Lehrers zu seinen Schülern, die in der rätselhaften Form des Koan neben dem Zazen, als wichtige Sitzmeditation, für Außenstehende Unverständnis erzeugen mag. In der Form eines Koan wird oftmals eine Aussage oder Frage getätigt, die z.B. mit einem Folgesatz in ihr völliges Gegenteil gesetzt wird. Ein Rätsel für Menschen außerhalb des Buddhismus, das kein zu lösendes Rätsel mit einer eindeutigen oder überhaupt beabsichtigten Antwortmöglichkeit oder -erwartung darstellt, sondern über langes, meist sehr langes Meditieren Wege anbietet, sich einem Gedanken oder Erkenntnis zu nähern. Die aus der griechischen Philosophie entstandene Logik, der Wesensverbundenheit von Ursache und Wirkung, würde den Zen-Schüler bei der Beschäftigung seines ihm aufgegebenen Koans nur hinderlich sein, seinen eigenen Weg zu finden.

Dass die westliche Welt sich längst mit ostasiatischen Religionen, Philosophien und Lehren auseinandergesetzt hat, kann man, so unwahrscheinlich es klingen mag, an den Kommentaren und Weisheiten aus der Sportberichtserstattung anschaulich nachvollziehen. So schilderte der Kommentator einer Vorberichtserstattung, diese Unart einer von den Medien immer wichtiger und vom zeitlichen Umfang her länger als das tatsächliche Sportereignis selbst dauernde Reportage, für ein Spiel zwischen einem abstiegsbedrohtem und einem im Mittelfeld liegendem Sportverein die friedliche, weil ordnungspolizeilich geschickt getrennte Anreise der beiden Fanlager und die weitere, auch sportliche Erwartung zu diesem Spiel. Auf die abschließende, sowohl die Situation der beiden Fanlager wie das sportliche Ergebnis betreffende Frage der Moderatorin im Sender: „Was passiert jetzt?“ antwortete der Vorort-Kommentator koangleich mit: „Alles ist vorstellbar. - Pause – Oder das Gegenteil.“

Bis heute im halben Lotussitz sitzend habe ich mich auf den Weg dieses Koans begeben. Der Weg mancher Koans dauert Jahre – oder endet nie.



von innen heraus  

Als ich klein war
sah ich
mit großen Knopfaugen
hinaus
in die große Welt.
Im Bewusstsein meiner Kleinheit.

Als Pubertierender
sah ich
mit wässrigen Augen
viel Rosarot.
Nicht wissend
ob das was ich sah
existent war oder Trug.
Innen und außen
in sich verwoben.

Heranwachsend
sollte ich die Welt
als Erwachsener sehen
- aus Sicht der Erwachsenen.
Aus dem erwachsenen Körper
blickte aber noch scheu
weiter das Kind.
Das sah nur ich.

Das Erwachsenenleben
kannte nicht die Zeit
sich auf die Sicht
des eigenen Sehens einzulassen.
Alltagsüberlagerungen.

Erst im Alter
die Erkenntnis
nur von innen heraus
die Welt sehen zu können.
Kein Zusammenhang
mit meiner äußeren Erscheinung.
Blicke wie als Kind
alterslos zeitlos staunend.
Spiegellos. Mich selbst
nicht sehen können.
Blicke mein Leben lang
immer nur
von innen heraus.
So sieht mich keiner. 


manchmal

manchmal
bedarf es Worte
manchmal
genügt ein Blick

manchmal
verläßt man Orte
manchmal
sehnt man sich zurück

manchmal
kann man beständig sprechen
manchmal
verstummt man im Augenblick

manchmal
ist alles traurig
manchmal
ist alles Glück

manchmal ...



Mond

Ich hab dich Mond schon tausendmal gesehen,
so wandelbar
wie Weniges ich kenn.
Ich möcht dich Mond mal irgendwie verstehen,
bis dein Geheimnis
ich eines Tages nenn.

Ich hab dich Mond schon tausendmal gesehen,
als schmale Sichel
beschützend wie mein Kissen.
Ich spür
wie deine Träume mich anweh'n,
wie ferner Nebel.
Möcht es niemals missen.


zu gelassen

wenn sie anfangen
an der Welt zu drehen,
und dadurch
die genial justierte Achse
aus dem Gleichgewicht bringen,
dann ist uns,
die wir das zugelassen haben,
nicht mehr zu helfen


Demokratie

Demokratie
soll wie
Pandemie sein
- hochansteckend.

Achtung!

für beides werden
Impfstoffe
entwickelt …

AUFGELESEN

der Baum des Lebens
trägt mich aus

und lässt mich reifen

unbemerkt von allen
überschreite ich die Reifezeit

und du lässt mich fallen

und doch
der Kundige liest mich auf

Fallobst,
süß wie das Leben

 

 Die Macht des Wortes

Von irgendwo her
saust Du auf mich zu
Deine Ladung ist schwer
ich bin noch ganz Ruh´

Du wurdest geschleudert
mit Absicht oder nicht
dann kommst Du und räuberst
mir mitten ins Gesicht

Deine Macht ist gewaltig
vor Dir schützt kein Schild
Du tarnst Dich erst gar nicht
hinterlässt ein grässlich Bild

Oh Wort, voller Gift Du,
was richtest Du an
Du lässt keine Spur zu
an der man Dich packen kann

Du triffst meine Nerven
wie ein giftiger Pfeil
gelähmt ist mein Herzen
ich taumle ins All

 
vorhin

vorhin,
vorhin war es,
vorhin

vorhin,
vorhin war es,
glaub´ich

vorhin,
vorhin glaub´ich,
war es

vorhin?

 



 

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